Montag, 27. Dezember 2010

Silvester im Eis

Von Flecky.

Carina hieß sie. Und Silvester stand vor der Tür. Und wenigstens einmal in diesem Leben wollte Carina Silvester feiern, wie sie es noch nie getan hatte. Einmal ein Silvester, das dem vergangenen Jahr würdig war und das neue in allen Ehren begrüßen sollte. All der Glanz und Glitter, den sie in den Fernsehübertragungen der Silvesterfeiern aus aller Welt sah, war bisher ganz weit an ihr vorbeigegangen. Die Lichter, das Feuerwerk, all das war so fern von der Welt, in der sie lebte. Leben, das war sowieso eine andere Dimension. Man existierte nur in dieser Umgebung, die nächste Stadt fast schon in einer anderen Welt.

Doch genau dorthin wollte Carina. In diese Welt eintauchen, die sie nicht kannte. Menschen sehen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Das pure Leben in all den bunten Farben sehen, einen Hauch von Glamour im Goldregen erfahren. Und Carina hatte einen Plan. In den frühen Abendstunden wollte sie sich absetzen, heimlich und leise sollte es sein. Wenn die Eltern pflichtgemäß ihre kleine Schwester ins Bett bringen und niemand Notiz von ihr nehmen würde.

Sie wollte trampen. Vorne an der kleinen Dorfstraße, die nur als wenig befahrener Transitweg diente, wollte sie warten. Den dünnen Verkehr wie einen langsam tropfenden Wasserhahn beobachten und bei jedem Tropfen auf ihr Glück hoffen. Jenes Glück, das sie auf eine Reise mitnehmen sollte.

Bis zu diesem Punkt klappte ihr Plan reibungslos. Niemand bemerkte, wie sie auf leisen Sohlen das Haus verließ, sanft die Tür hinter sich zuzog. Der leise Schneefall verwischte die Spuren im Garten hinter ihr schnell. Bis zur Straße waren es kalte fünf Minuten, Carina nahm sie auf sich, ohne eine Miene zu verziehen. Am Straßenrand strahlte nur das einsame Telefonhäuschen als Relikt aus längst vergessenen Zeiten etwas Licht ab. Es dauerte eine Weile, bis sich aus der Ferne zwei Lichter näherten. Eine Minute später streckte Carina ihren Arm mit erhobenem Daumen in Richtung Fahrbahn. Ein Rentner-Ehepaar in einem Durchschnittsauto musterte sie neugierig beim Vorbeifahren. Der Arm ging wieder herunter.
Das nächste Licht, das eine gefühlte Ewigkeit später erschien war allein und damit wohl ein Zweirad. Sie nahm den Arm erst gar nicht hoch.

Die Kälte war beißend geworden. Carinas Gedanken, begannen am Plan zu zweifeln. Das nächste Auto, das anteilnahmslos vorbeifuhr, verbesserte die Situation nicht. Und trotz, dass sie sich pausenlos schwor, nach der nächsten Enttäuschung in die warme Öde zurückzukehren, ließ sie Auto um Auto passieren. Gedemütigt vom Frost und vom Schnee gebleicht, wandte sie sich dann doch irgendwann ab, um den frustrierten Rückzug anzutreten. Der Lärm ließ sie aufschrecken.

Das Geräusch war da, bevor sie die Ursache dafür sehen konnte. Nach einigen Sekunden sah sie eine beleuchtete Schneefontäne, die sich in ihre Richtung bewegte. Das Räumfahrzeug dahinter erkannte sie noch etwas später. Carina beschloss, ihrem Glück noch eine letzte Chance zu geben und streckte den Daumen aus. Mit ohrenbetäubendem Getöse schoben sich erst eine dreckige Schneewand und dann ein Fahrzeug, das mal orange gewesen sein muss, an ihr vorbei. Carina sprang zur Seite. Sie wollte Königin unter leuchtendem Goldregen sein, nicht ein armes kleines Ding unter einem Schauer aus Schlamm und Schneematsch. Quietschende Bremsen stoppten das Gefährt einige Meter weiter. Kalle kurbelte sein Fenster herunter.

Als Carina den Stillstand des Fahrzeugs erkannte, rannte sie los. Die Kälte schien ihre Knochen und Gelenke eingefroren zu haben, jeder Schritt schmerzte. Als Kalle sie wahrnahm, hatte sie schon die Beifahrertüre aufgerissen und sich neben ihm platziert, Sie zitterte. Im Inneren war es einigermaßen angenehm, mehrere Düsen bliesen ihr warme Luft entgegen. Kalles Worte, die an sie gerichtet waren, hörte Carina zunächst nicht.

Am Innenspiegel des alten Unimog hing noch ein trostloser Weihnachtsstern, das klischeebeladene Schild hinter der Windschutzscheibe blinkte Kalles Namen in die leere Nacht. Rudimentär lag ein Hauch von Biergeruch in der Kabinenluft. Kalle strich sich ratlos durch seinen ergrauten Vollbart, während Carina begann, die Umgebung wahrzunehmen.

Es dauerte noch eine Weile, bis Carina klarmachen konnte, warum sie hier saß, was und wohin sie wollte. Mit jedem Wort, das sie sprach, wurde Kalles Blick skeptischer, doch er beschloss, ihr zu helfen. Ohne einen weiteren Kommentar setzte er den Wagen wieder in Bewegung und übertünchte den Biergeruch, indem er sich eine Zigarette anzündete. Das Funkgerät rauschte monoton, unterbrochen nur von gelegentlichem asynchronen Knacken.

Carina konnte nicht sagen, wie lange sie fuhren. Rhythmisch schoben die Scheibenwischer des Unimog den Schnee weg und versetzten sie in eine Art Trance. Kalle schaltete das Radio ein. Ein DJ schien nicht begriffen zu haben, dass Weihnachten längst vorbei war, ungeniert spielte er Wham!. Kurz darauf erreichten sie den Hof. Kalle ließ den Motor ersterben und bedeutete Carina, auszusteigen. Noch immer leicht hypnotisiert leistete sie seiner Anweisung Folge und sah sich um. Mehrere Fahrzeuge, die jenem, mit dem sie angekommen waren, glichen, standen in militärischer Formation neben ihr. Er brachte sie in einen kleinen beleuchteten Baucontainer. Im Innern saßen mehrere Männer, die sie anstarrten.

In kurzen Worten widerholte Kalle vor den anderen Carinas Geschichte, so wie er glaubte, sie verstanden zu haben. Auf die Frage nach der nächsten Tour in Richtung Stadt meldete sich ein junger Fahrer in rustikalem Hemd. Sein Gesicht mochte so gar nicht zu Kleidung und schon gar nicht Beruf passen, viel zu fein schien es gezeichnet. Carina fand ihn auf vertraute Weise schön. Sie wärmte sich am Ofen in der Ecke.

Julian öffnete ihr die Tür seines Fahrzeugs. Das Innere schien ihr vertraut, doch fehlte die Schwere von Bier und Tabak. Sie ließ sich auf den Sitz gleiten und beobachtete, wie Julian neben ihr Platz nahm. Der Motor erwachte zum Leben, etwas zu ruckelig ließ er die Kupplung kommen. Vor der Fahrzeugfront senkte sich die schwere Schaufel und erneut setzte eine Fontäne ein. Carina beobachtete Julian, wie er den schweren Pflug geschickt entlang des Straßenrands manövrierte. Er pfiff dazu leise. Es war ein altes Lied, sie kannte es, konnte sich aber weder an Interpret noch Titel erinnern. Es klang, wie aus einem früheren Leben. Es trug sie zurück in die Kinderzeit, in der sie die Abgeschiedenheit als Segen und nicht als Fluch empfand. Später wanderten fast alle jungen Leute ab, zogen weg, suchten ihr Glück in der Welt, in die Carina nun auch fliehen wollte - zumindest zeitweise.

Sie musste an ihre Eltern denken. Ob sie ihr Verschwinden inzwischen bemerkt hatten? Ob sie nach ihr suchten? Ob sie den Zettel gefunden hatten, den sie hinterließ? Auf den sie schrieb, dass sie am ersten Tag des neuen Jahres wieder zurückkehren werde.
Julian hatte die Heizdüsen auf Carinas Füße gerichtet. Wenn die Füße kalt sind, friert der ganze Körper. Das hatte Julian zuvor gesagt. Sie musste lachen. Die Mutter ihrer Sandkastenliebe predigte das allen Kindern auf dem Spielplatz regelmäßig. Worte und Erinnerungen, die so weit weg schienen. Wie das Lied, das Julian immer noch pfiff.

Noch immer konnte sie die Lichter der Stadt nicht ausmachen. Gerade, als sie sich fragte, wie weit es wohl noch sein würde, verstummte Julians Pfeifen. Kurz darauf der Motor. Aus Reflex riss er das Steuer etwas zu weit herum, der Laster rollte jenseits des Seitenstreifens im Schnee aus. Ohne Carina einen Blick oder eine Erklärung zu schenken, griff er zum Funkgerät und meldete ein steckengebliebenes Fahrzeug. Sie warteten eine Weile und unterhielten sich über zwanglose Dinge.

Carina fröstelte. Ohne Motor lief auch die Heizung nicht und der Frost zog fies durch die Türen und Fenster hinein. Als Julian dies bemerkte, griff er nach einer Thermoskanne und schenkte ihr einen heißen Tee ein. Das heiße Gebräu wärmte von innen und bescherte ihr ein kurzes Gefühl des wohligen Schüttelns. Der Geschmack des Tees jedoch kam ihr vor, wie ein weiteres Fragment des Erinnerns. In einem kurzen Moment unbedarfter Spontanität lehnte sie sich an ihn um die Kälte zu vergessen. Plötzlich fühlte sich wieder alles so vertraut an und mit einem Schlag konnte sie alle bis dato längst vergessenen Erinnerungen wieder zuordnen. Sie sah ihn an und erzählte.

Die Lichter, die sich näherten, gehörten zu Kalles Unimog. Er hielt neben den beiden an, doch Julian winkte ihn weiter. Carina lag in seinen Armen. Ihren Plan hatte sie längst verworfen. Das hier war besser. In der Ferne sahen sie das große Feuerwerk der Stadt. Goldregen.

Montag, 15. November 2010

Nachts in Darmstadt - mein neuer Freund

Von Jannis.

Nachts in Darmstadt... es hätte auch anderswo sein können. Vielleicht. Aber es hätte nicht einem anderen passieren können. Vermutlich. Glaube ich zumindest. Vielleicht lag es auch an diesem Abend, an dieser Nacht. Aber... ach, eigentlich war es so wie immer in solchen Nächten.

Es war am Heinerfest. Alle Heiner betrinken sich da. Auch die Odenwälder, die verhinderte Heiner sind. Und auch die, die keine Heiner sein wollen. Wie ich. Aber ich wollte feiern. Zuerst stand ich da, nichtsahnend. Philipp rannte mir in die Arme. Er wollte gleich weiter. Er hatte einen Unsinn getrieben. Einer seiner Lehrer stand plötzlich da, wollte die Polizei rufen. Philipp bat mich, schnell mit ihm zu flüchten. Aber das ist eigentlich eine andere Geschichte. Später war ich mit den Freunden von Philipp im Schlosskeller. Feiern nach dem Heinerfest. Und dann war drei Uhr morgens. Und ich dachte: Ach, da kannst du doch mal langsam Richtung Bahnhof schlappen. Und dann... dann fährt vielleicht ja auch eine Bahn?

Meinen iPod auf den Ohren, Sigur Ros taumeln durch meine Gehirnwindungen. Ich bin wie weggetreten. Denn... so müde... und so trunken... und so...
Ich höre ihn nicht, spüre ihn aber. Plötzlich läuft er neben mir, leicht schwankend. Er quatscht mich dumm von der Seite an. Doch ich verstehe erst mal nichts. Stöpsele meine Kopfhörer ab. "Rauchst du?" - "Nein, ich bin Nichtraucher. Sorry." - Kauf mir bitte Zigaretten!" - "Wieso? Kannst du das nicht selbst?" - "Nein, ich habe es schon versucht, es geht nicht!" Will dieser Mensch mich veräppeln?! Was ist da los? "Also, mein Gutster, genau vor mir ist eine Tankstelle. Da gehste rein, sagst, was du willst und gibst dem netten Mann das Geld. Ok?" - "Oh nein, ich kann nicht. Mach du es! Ich gebe dir das Geld!" Und tatsächlich: Er legt behutsam ein paar Münzen in meine Hand. Na, meinetwegen, denke ich mir. Wahrscheinlich weil ich sowieso benebelt bin. Er folgt mir. In der Tankstelle das absurde Bild: Ich stehe an der Theke, der Verkäufer - mit leichtem nervösen Zucken - gegenüber, er schaut mich schräg an, zieht leicht die rechte Augenbraue hoch. Ich sage: "Er möchte ein Päckchen..." Zum Typen gewandt: "Welche möchtest du?" - "Marlboro Light." Das auch noch, denke ich mir. "Also, er möchte ein Päckchen Marlboro Light." - "Gut", sagt der Verkäufer. Reicht mir das Päckchen rüber. Alles gut. Ich drücke die Zigarettenschachtel dem Typen in die Hand. Wir verlassen den Tankstellen-Shop. Der Typ schaut mich an. Er sagt: "Jetzt musst du mit mir rauchen." - "Ich rauche nach wie vor nicht!" Sein Blick wird leicht unruhig, aber eher kindlich-fordernd. Er sagt: "Doch, jetzt rauchst du eine mit mir. Du hast mir die Kippen gekauft, also rauchst du sie auch mit mir." Äh, was sollte ich darauf antworten. Ich bleibe verdutzt stehen. Dann: "Ja, ich weiß auch ein gutes Plätzchen dafür." Ich kriege es nun mit der Angst zu tun. Doch er meint eine Stelle, die sehr öffentlich ist, an der Straße, man kann sich schön anlehnen. Ich stehe da und rauche eine mit ihm. Dann kommen Leute dazu, schenken uns Bier. Gehen weiter. Der Typ beginnt merkwürdige Unterhaltungen. "Du bist doch schwul, oder?" - "Was geht es dich an? Willst du was von mir?" blaffe ich ihn an. "Nein, nein, ich habe eine Freundin. Aber ihr bester Freund ist schwul. Den finde ich cool. Alles perfekt, habe kein Problem, dass du schwul bist!" - "Wer sagt...." - "Äh, nein, alles cool, das ist schon perfekt so. Ich find dich toll. Du bist korrekt." - "Äh..." Diese Unterhaltung geht minutenlang weiter, ohne rechtes Ziel und ohne Sinn vor allem.

Plötzlich steht Ahmet neben uns. Um kurz nach vier oder so. Was macht der denn hier? Er ist der Mann einer Bekannten. Er muss gerade an den Bahnhof. Wir laufen mit. Er muss nach Rödermark. Ah, da fährt der Zug an Frankfurt vorbei. Ich also mit. Der Typ heftet sich an mich. Er möchte auch in Frankfurt übernachten. Schließlich wohne er da auch. "Ja, dann mach doch." - "Nee, geht nicht, das Auto steht bei meiner Freundin, und die wohnt am anderen Ende Darmstadts." Ich frage mich kurz, wieso er dann hier am Bahnhof steht, doch komme auf keine Lösung. Dann geht es hin und her. Ich weiß gar nicht, welche unsinnigen Argumente er hatte. Und wie vernünftig ich darauf reagierte. Oder auch nicht. Denn schlussendlich sagte ich leicht zerknirscht: "Kannst ja auch bei mir pennen..." Im nächsten Moment bereue ich es. Er lächelte glücklich. Was habe ich da nur angestellt? Wir sitzen in der Bahn. Ahmet, der Typ, ich. Ahmet ist wach. Wir beiden anderen nicken ein. Kurz vor der Konstabler wache ich auf. "Ahmet, ich muss raus." - "Und dein Freund?" Oh ja, denke ich mir. Mein neuer Freund. Ich schüttle ihn leicht. Doch er merkt nichts. Meine Bahn hält. Ich springe schnell hinaus. Der Typ hat nichts bemerkt. Ahmet schüttelt drinnen den Kopf. Ich winke. Erleichtert. Der Typ schläft und fährt derweil woanders hin. Bis nach Rödermark? Mir egal. Ich bin nochmal davongekommen, denke ich mir....

Freitag, 12. November 2010

Ringkøbing

Von Lydia.

Ich wusste nichts über ihn. Nichts. Ich könnte Ihnen seinen Namen verraten. Das genaue Alter. Den Geburtstort. Ich hätte mich hinaus schleichen, seine Schuhe umdrehen können um nach zu sehen, welche Schuhgrößer er trägt.
Was würde Ihnen das nützen? Nichts. Zahlen wären das dann, nichtssagende Zahlen und Buchstaben, die Worte formten.
Ich habe ihn mit dem Zug besucht. Nachmittags bin ich den Zug gestiegen, Schweiß gebadet in G. los gefahren. Kurz vor Mitternacht kam ich in der Stadt an, in der er wohnte. Eine Stadt in Dänemark, eine Stadt in der er vielleicht noch immer wohnt. Ringkøbing.
Wortlos nahm er mein Gepäck ab, welches gar nicht schwer war.
Wir fuhren Rolltreppen hinauf. Ich stand eine Stufe über ihm, drehte mich zu ihm herum. Wir grinsten einander wortlos an, bis ich die Augen schloss, den Kopf in den Nacken legte und nach oben sah, genau so, als stünde ich am Meer, röche die salzige Luft. So als wirbelte der Wind bereits in meinem Haar.

Ein paar Tage haben wir beieinander gelegen und übereinander lagen wir auch. Wir stapelten uns, klebten wie Feuerkäfer aneinander. Verknoteten unsere Arme und Beine miteinander. Wir redeten bis wir still wurden.

Es war so still.

Für einen Moment hätte man jedes noch so kleine Geräusch vernehmen können. Das Geräusch, welches Papier machen würde, wenn man es in der Hand zerdrückt, um es in den Papierkorb zu werfen. Es war so still, dass man selbst den Aufprall des zerknüllten Papieres noch hätte vernehmen können. Zwischen uns und der Stille entstanden Hurrikane.
Stille Hurrikane.
Sie kamen so schnell über uns, dass es mir unmöglich war zu begreifen, wie sie entstanden.

Kraftlos.

Nach jedem Mal. Immer, wenn all das vorbei war, waren wir müde und kraftlos. Wir mussten aufstehen, um zu schlafen. Wir nahmen den Bus.

Bus fahren um zum Meer zu gelangen.

Er setzte sich an den Strand, zog die Schuhe aus und malte Bilder mit den Füßen. Bilder die mir der kalte Wind als Sandkörner ins Gesicht schmiss. Manchmal peitschten sie wie Nadelstiche auf meiner Haut.

Ich sang seinen Namen vor mich hin, ein Name, der ihnen alles über ihn verraten würde.

Ich wickelte mir singend ein Handtuch um die Hüften und lief dem Meer entgegen. Aus der Ferne konnte ich sein klingelndes Telefon hören. Dort, wo das Wasser begann meine Füße zu umspülen, ließ ich das Handtuch fallen. Rannte, tauchte ein und tauchte unter. Bilder tauchten vor meinem geistigen Auge auf. Ich als Kind, Hulla Hoop spielend im Garten meiner Eltern. Die schreienden Stimmen meiner Eltern, die aus dem Haus drangen. Ich sah meine Eltern vor mir, wie sie sich anschrien. Sie schrien, weil sie sich liebten, weil sie sich noch immer so sehr lieben.
Ich schwamm zurück an den Strand, wickelte mir mein Handtuch wieder um die Hüften und ging zurück zu ihm. Er malte noch immer Bilder in den Sand, telefonierte noch immer mit seiner Familie in einer Sprache, die ich nicht verstand, nie verstehen würde.

Ich setzte mich neben ihn, es waren keine anderen Menschen in der Nähe und nur deshalb legte er den Arm um mich. Mein Kopf sank an seine Schulter, in seinen Nacken. Ich schlief ein, als ich seinen Worten lauschte. Worte, die zusammen mit dem Rauschen des Meeres wie eine fremde besänftigende Melodie klangen.

Als ich aufwachte saß ich wieder im Zug nach G., halb erfroren, das grelle Innenlicht spiegelte sich in den Fensterscheiben. Ich konnte nichts mehr sehen.

Donnerstag, 11. November 2010

Flüchtig glücklich

Von Sparklenina.

Sonntagsmorgens, das Licht des schon fortgeschrittenen Tages färbt unsere nackten Körper von grau zu weiss, während unsere Geister locker zwischen Schlaf und Wachsein hin und her schwingen. Sanft lasse ich meinen Arm auf deiner Schulter nieder und lege meinen Kopf darauf. Von hier habe ich eine schöne Aussicht auf die linke Seite deines Halses, einen Teil deiner Brust und das Profil deines Gesichts, Ich beobachte dich mit müden Augen, lausche deinen gleichmässigen Atemzügen und frage mich, ob dich in diesem Moment irgendwer auf dieser Welt so gut kennt wie ich.

Mit ein wenig unerklärbarem Stolz betrachte ich dich. Der Alkohol der letzten Nacht hat dir die Farbe aus dem Gesicht genommen, der Schlaf dir einen neutralen Gesichtsausdruck verpasst. Ich frage mich ob du im Schlaf genau der bist, der du wirklich bist, da du dich ja nun nicht verstellen, benehmen, bemühen kannst. Dieser Moment hat etwas Pures, Friedliches an sich. Im nächsten Moment regst du dich, dein Kopf fällt ein wenig zur Seite, sodass ich nun nur deinen Nacken sehen kann. Wieviele wohl deinen Nacken so gut kennen? Ich frage mich, warum ich soviel Stolz empfinde in diesem Moment. Immerhin bist du gar nicht Meins; nie gewesen und auch nie als Solches versprochen.

Und doch sind es gerade diese Momente, die mein Leben so bereichern. Nein, das ist falsch ausgedrückt, mein Leben ist auch ohne diese Momente sehr reich, aufregend, und vor allem ganz anders als Deins. Dies ist auch der Grund warum es meist nur bei diesen Momenten bleibt. Sie verschwinden schnell und oft ohne die Gewissheit wann und vor allem ob sie wieder passieren. Ich habe mich gewöhnt, an diese Ungewissheit und irgendwie ist es auch genau das, was unsere Beziehung so aufregend, so einmalig, so chaotisch macht. Diese Momente sind wie Urlaub und nach Hause kommen auf einmal. Eine Flucht in das Vertraute, wo Worte fast unnötig, ja manchmal sogar stöhrend sind.

Unsere Beine sind verknotet, aber ich wage nicht meine zu bewegen. Ich will dich nicht aufwecken, dich denken lassen dass ich wieder hinaus will, in diese Welt in der wir nicht zusammen passen. Wo du mich in den Wahnsinn treibst und du mich nicht verstehen kannst. Wo du alte Freundschaften pflegst und ich immer mal wieder von der Bildfläche verschwinde. In der mich das Fernweh vertreibt während du tüchtig dein Leben auf festem Grund baust. Und wo die Menschen reden und analysieren und unsere Momente zerstören, verdrehen, und irgendwie verzerren. Da draussen sind wir getrennt, durch Kilometer, aber auch durch unsere eigenen Träume, Ziele, Gedanken. Wir sind wie gleichgepolte Magneten, wir stossen uns ganz natürlich ab. Doch manchmal ist die Sehnsucht, oder die Einsamkeit, die Lust, oder einfach nur der Spaß an der Sache so groß, so stark, dass es die Natur überwindet. So entstehen diese Momente. Unerklärbar und für viele unverständlich.

Draussen fallen die Regentropfen vom Fensterrahmen wie ein Vorhang. Es sieht aus als wäre es kalt und ungemütlich und nichts gibt mir den Wunsch jetzt dort hinaus zu gehen. Dein Körper wärmt mich und das gleichmässige Klopfen deines Herzens übertönt das Tropfen da draussen. Doch es wird Zeit. Ich lasse das Denken für eine Weile, versuche dieses Gefühl zu speichern, für die Nächte weit weg, alleine. Ich atme deinen Geruch ein, und bereite mich darauf vor diesen Moment von der Kategorie „Gegenwart“ in die Kategorie „Erinnerungen“ zu verschieben. Ich mag es nicht wirklich diejenige zu sein, die diese Momente beendet. Es gibt mir etwas Unruhiges, es macht mich irgendwie nervös. Ich seufze und drehe mich langsam von dir weg, richte mich auf und sehe dir zu wie du dich streckst und dir den Schlaf aus den Augen reibst. Der Moment ist vorrüber, einfach weg. Und obwohl ich mir darüber bewusst bin, dass ich ihn zum Gehen zwang, trage ich doch lieber diese Schuld als am Ende die Verlassene zu sein.

Sonntag, 25. Juli 2010

Lichtwechsel

Von Ruth.

Ein.

Das Licht geht an, er steht auf. Geht ins Bad, putzt die Zähne, heute rasiert er sich wieder. Jeden 3. Tag. „Bartstoppeln stehen Ihnen, junger Mann“ sagte die Arzthelferin beim Zahnarzt.
Vielleicht stimmt das.

Fertig für den Tag, nun durch die Türe hinaus, die Treppe runter, die erste Treppe des Tages.
An der Haustür die Nachbarin, Frau …... wie heißt sie noch gleich? „Guten Morgen, unglaublich, ein Autounfall, vorne an der Ecke, wie das passieren konnte. Und gleich die Journalisten da, kurz nach dem Rettungswagen, vielleicht komme ich in die Zeitung, unglaublich, ein ganz normaler Morgen dachte ich und dann das, wirklich unglaublich.“
Ihr Name ist ihm wieder eingefallen. Oder besser: Der Name, der zu ihr passt. Frau Unglaublich. Er muss innerlich schmunzeln, verabschiedet sich, geht hinaus.

Auf dem Weg noch schnell zur Bäckerei, zum Glück noch rechtzeitig. Das Mädchen mit der Gitarre auf dem Rücken hat gerade bezahlt, sie kommt ihm entgegen, lächelt, nickt ihm zu. Er lächelt zurück, dies wird ein schöner Tag, ein Sonnentag.

Ralf wartet schon am Park, er steigt in den Transporter. „Moin Ralf, was gibt’s heute zu tun?“
Wie immer Wohnungen “der armen Ommis und Obbas, die ganz allein dahinsieche tun“, wie Ralf das so schön ausdrückt. Zum Glück keine Extremfallwohnung heute wie es scheint, keine die im Müll versinkt und die stinkt wie eine Müllhalde bei Sonnenschein. Schattenseite und Sonnenseite. Auch und gerade ein Sonnentag hat seine Schattenseiten. Er denkt wieder an das Gitarrenmädchen. Und hat die Mülldeponie schon vergessen.

Die erste Wohnung, Treppe rauf, 5. Stock und kein Aufzug, das wird anstrengend.
Oben die Tür öffnen lassen, vom Sohn des Verstorbenen. Aufräumen, sortieren, die Überbleibsel eines Lebens auswerten. Geschirr, Gemälde, eine Sammlung von Jagdmessern, wenige Bücher. Weit hinten im Wohnzimmerschrank ein Haufen Häkeldecken, sicher von seiner Frau, zuerst gestorben und ihm hatten sie noch nie gefallen? Er weiß es nicht, fragt Ralf auch nicht. Einfach weiter machen. Sack mit Gegenständen, die ihren letzten Weg zur Abfalltonne antreten. Treppe runter. Treppe rauf und wieder runter, immer wieder bis die Wohnung leer ist. Dann die nächste.

Schließlich Feierabend, er läuft nach Hause, mit fast 30 muss mann schließlich auf die Figur achten. Jochen kommt noch vorbei, Bier trinken auf dem Balkon, warme Sommerabendluft.
Endlich ins Bett, die müden Beine ausstrecken, die sich langsam abkühlende Luft, die durchs offene Fenster hereinweht, genießen.

Aus.
Ein.
Aus.
Und dann für immer.

Donnerstag, 24. Juni 2010

Ende

Von Konrad.

Chamakh betrachtete seine Fingernägel. Sie wirkten ungepflegt und täglich abgekaut. Das Licht des Raumes warf den Schatten seines Körpers auf den Tisch und zusammen hörten sie dem Pochen ihres Herzens zu. Es roch nach Frittierfett. Abgestandenem Frittierfett. Vor allem aber, stand der Rauch von Tausend Zigaretten in der Luft. Deren Reste türmten sich über die Ränder der Aschenbecher und belegten die darunter liegenden Holzplatten. Bei der kleinsten Bewegung ächzten die Stühle und beklagten sich über ihre Last. Die Kulisse glich der, an den vorangehenden Tagen. Der Mann an der Bar hustete vor sich hin, während er den Tresen sauber machte. Mit einer Armbewegung wischte er die klebrigen Reste verschiedenster Getränke und seinen eigenen Speichel weg.
„Wir schließen gleich!“, sagte er eher beiläufig.
Chamakh stütze sich am Tisch ab als er aufstand, um zu gehen. Sein Gesicht verzog er dabei.
„Soll ich dir ein Taxi rufen, Chamakh?“
„Nein geht schon, danke. Gott segne dich mein Freund. Bis morgen.“ „Ja bis morgen...“ Er lächelte schwach als er hinaus auf die Straße trat. Es war eine kalte Frühlingsnacht und der klare Nachthimmel verkündete einen schönen morgigen Tag. Chamakh richtete seinen Kragen auf und steckte seine Hände tief in die Taschen der Jeans. Sie war löchrig und ihr Bund war weit, weshalb er die Hose jedes mal nach fünf Schritten hochziehen musste. Die Straße war leer um diese Uhrzeit und in den Fenstern der Häuser brannte kein Licht mehr. Die ganze Stadt schlief während Chamakh seinen Weg ging. Ein Taxi näherte sich ihm, von hinten. Als beide auf der selben Höhe waren, kurbelte der Fahrer das Fenster hinunter.
„Wollen sie mitgenommen werden?“
„Tut mir Leid, ich muss passen. Ich könnte Sie nicht bezahlen.“ „Heute ist ihr Glückstag. Steigen sie ein, ich spendiere ihnen die Fahrt.“ Der Taxifahrer öffnete ihm die Beifahrertür von seinem Platz aus und machte das Licht im Auto an. Während Chamakh einstieg verzog er abermals sein Gesicht.
„Ich danke Ihnen, guter Mann.“
„Wir Ausländer müssen doch zusammen halten. Wo soll es hingehen?“ „Ach, fahren Sie einfach gerade aus. Alles andere ergibt sich dann.“ Der Taxifahrer nickte zustimmend und startete den Wagen.
„Wo kommen Sie denn her, wenn ich fragen darf?
Chamakh hustete stark, bevor er antwortete. Dabei drückte er sich mit der rechten Hand auf seinen Brustkorb.
„Marokko. Bin vor 21 Jahren hierher gekommen.“ „Verstehe, ich komme aus Algerien.“ Der Fahrer klappte die Sonnenblende herunter.
„Schauen Sie, bitte. Das ist meine Familie. Meine Frau und ich sind vor 13 Jahren hergekommen. Haben Sie auch Familie hier?“ „Nein, nein, mein Freund. Ich bin alleine. Das schon eine lange, lange Zeit.“ Während die Sonnenblende wieder hochgeklappt wurde sah Chamakh aus dem Fenster und beobachtete die Ampel, wie sie auf Rot sprang. Sofort wurde das Auto langsamer und blieb schließlich stehen.
„Das ist sehr traurig. Sehr traurig. Ich wüsste nicht was ich ohne meine Familie machen würde. Wissen Sie, wenn ich morgens aufstehe und meine Frau neben mir liegen sehe, weiß ich, warum ich das alles mache. Verstehen Sie?“ „Ich verstehe sie sehr gut mein Freund. Es ist nicht leicht in einem neuen Land Fuss zu fassen. Das war bei mir nicht anders. Familie gibt einem Kraft und Rückhalt. Sie sind ein schlauer Mann wenn Sie wissen, was Sie an ihr haben.“ „Danke. Vielen Dank.“ Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung. Aus dem Autoradio drang leise Musik. Man hörte sie kaum, wenn man sich nicht darauf konzentrierte. Chamakhs Husten übertönte diese mühelos.
„Der Husten hört sich nicht gut an. Sie sollten zum Arzt gehen.“ „Guter Mann, es gibt Dinge, die niemand aufhalten kann. Auch kein Arzt. Meine Zeit neigt sich dem Ende entgegen und ich werde bald meine Ruhe finden, so Gott will.“ Der Fahrer nickte und wechselte den Gang.
„Sie sagen mir schon, wann ich abbiegen muss, ja?“ Chamakh lächelte und legte den Arm auf die Schulter des Taxifahrers.
„Machen Sie sich keine Sorgen. Machen Sie sich keine Sorgen...“

Samstag, 19. Juni 2010

Im Käfig

Von Abby.

„Möchtest Du etwas trinken?“
Erstaunt schaue ich auf. Vor mir steht ein blonder Junge, der mich fragend ansieht.
Ich schüttle den Kopf und versuche ein freundliches Lächeln. Es misslingt.
Er geht zurück zu der Gruppe Jugendlicher, die ihn erwartungsvoll beobachtet hatten.
„Warum hast Du nicht angenommen?“, fragt Bianca. Ich wende mich wieder ihr zu.
„Weil ich nichts wollte“, knurre ich als Antwort und hoffe, dass sie sich damit zufrieden gibt.
„Aber er ist doch voll süß!“ - „Na und?“
Sie macht eine entsetzte Miene, was mich zu einem Lächeln bringt. Sie ist der einzige Mensch, der das schafft. „So wirst Du nie einen Freund kriegen“, meint sie schließlich und zieht eine Schnute.
Ich sehe mich im Raum um. Jugendliche in unserem Alter stehen und sitzen rum, unterhalten sich und trinken. Ich habe nicht das Bedürfnis, einen von denen näher kennen zu lernen. Menschen nerven mich. Abgesehen von Bianca gibt es keinen, den ich wirklich mag. Sie und ich haben uns in der 2. Klasse kennen gelernt und sind seitdem Freundinnen. Auch wenn uns vieles trennt, Interessen, Aussehen, Weltanschauung, sind wir die besten Freunde.
Jemand tritt hinter sie und legt seine Hände auf ihre Augen. Mit verstellter Stimme fragt er: „Na, wer bin ich?“ Sie lacht und antwortet: „Bestimmt der Weihnachtsmann!“ Während sie sich umdreht und ihren Freund liebevoll begrüßt, hallt seine Frage in mir nach: Wer bin ich?

Wer ich bin? Außenstehende würden mich als eine zurückgezogene, ruhige und etwas eigenartige 16-Jährige bezeichnen. Ich melde mich nie im Unterricht und rede so wenig, dass manche wahrscheinlich denken, ich sei stumm. Es gibt viele, die gar nicht wissen, wie meine Stimme klingt. Die einzige Freundin, die ich habe, ist Bianca. Sie ist die Einzige, der ich vertraue. Ich bin klein, habe schwarzes Haar und dunkle Augen. Meine blasse Haut bildet einen starken Kontrast dazu. Ich bin unsichtbar für die Menschheit. Doch bin ich das wirklich? Zurückgezogen?

Oder eher zurückgedrängt? Von einer lauten, durch Lügen zerstörten Welt.

Bianca tippt mich an.
Entschuldigend lächelnd meint sie: „Ich muss jetzt gehen. Es ist spät.“ Ich nicke. Ihr Freund schaltet sich ein: „Soll ich Dich mitnehmen und irgendwo absetzen?“ Ich schüttle den Kopf. Die beiden verabschieden sich. Bianca umarmt mich kurz und murmelt „Bis Montag.“ Dann gehen sie.

Ich schaue mich um.

Während ich überlege, ob ich auch gehen soll, fällt mein Blick auf Stefan, der auf einer Couch im hinteren Teil des Raumes sitzt. Seine Augen sind geschlossen, er hört Musik über Kopfhörer. Abgetrennt von der Außenwelt.
Ich kenne ihn, wie die meisten anderen hier auch, aus der Schule. Er ist eine Klasse über mir. Wenn es einen Menschen gäbe, den ich als Seelenverwandten bezeichnen würde, wäre er es. Er ist ein totaler Einzelgänger. Er trägt nur schwarz, was ihm etwas Düsteres verleiht. Seine Haare sind genauso dunkel wie seine Augen.

Er lacht nie.

Als Bianca mich auf dem Schulhof einmal fragte, wen ich süß fände, zeigte ich auf ihn und sagte: „Verkupple mich mit ihm; er ist der Einzige, der mich ertragen könnte!“ Sie hatte gelacht und nicht gemerkt, dass ich es ernst meinte.
Langsam gehe ich auf ihn zu. Niemand im Raum beachtet mich, alle sind schon zu sehr betrunken, vom Alkohol und der Stimmung.
Vor Stefan angekommen bleibe ich stehen. Ich kann seine langen Wimpern sehen, den leicht geöffneten Mund, den Wirbel seiner Haare am Ansatz über der Stirn. Sein Brustkorb bewegt sich gleichmäßig, der linke Fuß wippt im Takt der Musik, die nur er hören kann.
Als ob er meine Blicke auf sich spüren würde, öffnet er die Augen und sieht mich unüberrascht an. Sein Fuß hört auf zu wippen, als er mir mit der Hand bedeutet, mich neben ihn zu setzen.
Ich kaue auf meiner Unterlippe, überwinde mich schließlich und setze mich neben ihn. Mein ganzer Körper ist angespannt, ich spüre jede Faser: Unsere Knie, die sich berühren, unsere Schultern, unsere Arme…
Ich frage mich selbst, was ich hier eigentlich mache. Unternehme ich hier wirklich den verzweifelten Versuch, ihn anzubaggern? Ich muss verrückt geworden sein!
Ich will wieder aufstehen, weggehen, mir eine Blamage ersparen.
Doch in genau dem Moment, als ich mich erheben will, legt er plötzlich seine Hand auf meine.

Ich erstarre.

Halte den Atem an und suche seinen Blick. Ernst sieht er mich an. Ich beiße mir wieder fest auf die Lippe, schmecke Blut.

Keiner von uns sagt ein Wort.

Ohne Vorwarnung zieht er mich plötzlich an sich heran. Unsere Gesichter sind nicht weit voneinander entfernt.
Ich atme seinen Geruch ein, eine Mischung aus Deo, Labello und Vanille. Von nahem kann ich die ockerfarbenen Schlieren in seinen dunklen Augen sehen.
„Was willst Du?“ Es ist mehr ein Flüstern, eine gewisperte Frage, die sich in mir festsetzt. Was will ich?
Ich schlucke und schaue auf seine Lippen. Stelle mir vor, wie diese sich wohl auf meienn anfühlen würden. Ich werde rot, als ich mich bei diesem Gedanken ertappe. Er bemerkt es. Sein Mund verzieht sich zu einem süffisanten Lächeln.
Er zieht mich noch ein Stück näher an sich heran.
Unsere Lippen trennen nur noch wenige Luftmoleküle, als er, jede Silbe betonend, flüstert: „Dann hol’ es Dir!“
Mit diesen Worten überbrückt er den letzten Abstand zwischen uns und küsst mich sanft auf die Lippen.
Ich sehe seine geschlossenen Augen, fühle seine weichen Lippen, die sich auf meine drücken und habe das Gefühl zu fallen.
Mit den Händen taste ich nach seinen Schultern und kralle mich an ihnen fest.
Ist das richtig? Ist es okay, ihn zu küssen?
Es ist für mich wie eine Befreiung aus einem Käfig, in dem ich schon zu lange eingesperrt war. Zu lange habe ich nichts empfunden, habe keine Gefühle zugelassen. Von ihm fühle ich mich verstanden. Das erste Mal im Leben.
Ob er mich wohl liebt? Ob er bei meinem Anblick auch ein Verlangen spürt, das er bisher nicht deuten konnte? Oder ist es für ihn ein Spiel? Ein Kuss, und danach nichts mehr?

Küssen und wieder vergessen?

Ich weiß es nicht. Doch ich weiß eins: Daran würde ich zerbrechen.
Dafür liebe und begehre ich ihn zu sehr. Doch ich will jetzt nicht an später denken. Nur an die Gegenwart, das Hier und Jetzt.

Ich schließe die Augen und erwidere seinen Kuss.

Ende einer Liebe

Von Flecky.

Wenn man denn immer so könnte, wie man wollen würde. Jana sah ihn an und wusste, dass es für sie beide keine Zukunft mehr gab. Jahrelang waren sie zusammen gewesen. Für sie war es Liebe auf den ersten Blick. So vieles hatten sie zusammen erlebt. Und sie konnte sich immer auf ihn verlassen. Dass sie sich nun so jäh trennten, brach ihr das Herz. Und er stand stumm neben ihr, kalt und leer. Und obwohl sie wusste, dass er sie nicht verstehen würde, flüsterte sie leise Sätze zum Abschied. Worte, die sie zum Weinen brachten, er aber stand weiterhin regungslos da und sah sie an mit seinen großen Augen - immer noch stumm. Als würden ihre Worte an ihm abperlen. Dass es höhere Mächte gab, die gegen ihre Liebe spielten, konnte er nicht wissen. Jana aber ahnte es, lange Zeit schon, auch wenn sie es nie zugeben wollte. Sie trat einen Schritt auf ihn zu, fast so, wie wenn sie ihm einen letzten Abschiedskuss geben wollte, streichelte ihn aber dann nur zärtlich.
"Ich werde dich vermissen", sagte sie schließlich zu ihm. "Du bleibst in meinem Herzen.". Dann wischte sie sich eine Träne aus den Augen und wollte gehen um den Abschied nicht noch schmerzhafter zu machen. Sie drehte sich um und verließ mit schnellen Schritten den Hof. Hinter ihm türmten sich Schrotthaufen - das nüchterne Todesurteil ihrer Beziehung flatterte an seinem Scheibenwischer: Nicht mehr verkehrssicher.