Montag, 27. Dezember 2010

Silvester im Eis

Von Flecky.

Carina hieß sie. Und Silvester stand vor der Tür. Und wenigstens einmal in diesem Leben wollte Carina Silvester feiern, wie sie es noch nie getan hatte. Einmal ein Silvester, das dem vergangenen Jahr würdig war und das neue in allen Ehren begrüßen sollte. All der Glanz und Glitter, den sie in den Fernsehübertragungen der Silvesterfeiern aus aller Welt sah, war bisher ganz weit an ihr vorbeigegangen. Die Lichter, das Feuerwerk, all das war so fern von der Welt, in der sie lebte. Leben, das war sowieso eine andere Dimension. Man existierte nur in dieser Umgebung, die nächste Stadt fast schon in einer anderen Welt.

Doch genau dorthin wollte Carina. In diese Welt eintauchen, die sie nicht kannte. Menschen sehen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Das pure Leben in all den bunten Farben sehen, einen Hauch von Glamour im Goldregen erfahren. Und Carina hatte einen Plan. In den frühen Abendstunden wollte sie sich absetzen, heimlich und leise sollte es sein. Wenn die Eltern pflichtgemäß ihre kleine Schwester ins Bett bringen und niemand Notiz von ihr nehmen würde.

Sie wollte trampen. Vorne an der kleinen Dorfstraße, die nur als wenig befahrener Transitweg diente, wollte sie warten. Den dünnen Verkehr wie einen langsam tropfenden Wasserhahn beobachten und bei jedem Tropfen auf ihr Glück hoffen. Jenes Glück, das sie auf eine Reise mitnehmen sollte.

Bis zu diesem Punkt klappte ihr Plan reibungslos. Niemand bemerkte, wie sie auf leisen Sohlen das Haus verließ, sanft die Tür hinter sich zuzog. Der leise Schneefall verwischte die Spuren im Garten hinter ihr schnell. Bis zur Straße waren es kalte fünf Minuten, Carina nahm sie auf sich, ohne eine Miene zu verziehen. Am Straßenrand strahlte nur das einsame Telefonhäuschen als Relikt aus längst vergessenen Zeiten etwas Licht ab. Es dauerte eine Weile, bis sich aus der Ferne zwei Lichter näherten. Eine Minute später streckte Carina ihren Arm mit erhobenem Daumen in Richtung Fahrbahn. Ein Rentner-Ehepaar in einem Durchschnittsauto musterte sie neugierig beim Vorbeifahren. Der Arm ging wieder herunter.
Das nächste Licht, das eine gefühlte Ewigkeit später erschien war allein und damit wohl ein Zweirad. Sie nahm den Arm erst gar nicht hoch.

Die Kälte war beißend geworden. Carinas Gedanken, begannen am Plan zu zweifeln. Das nächste Auto, das anteilnahmslos vorbeifuhr, verbesserte die Situation nicht. Und trotz, dass sie sich pausenlos schwor, nach der nächsten Enttäuschung in die warme Öde zurückzukehren, ließ sie Auto um Auto passieren. Gedemütigt vom Frost und vom Schnee gebleicht, wandte sie sich dann doch irgendwann ab, um den frustrierten Rückzug anzutreten. Der Lärm ließ sie aufschrecken.

Das Geräusch war da, bevor sie die Ursache dafür sehen konnte. Nach einigen Sekunden sah sie eine beleuchtete Schneefontäne, die sich in ihre Richtung bewegte. Das Räumfahrzeug dahinter erkannte sie noch etwas später. Carina beschloss, ihrem Glück noch eine letzte Chance zu geben und streckte den Daumen aus. Mit ohrenbetäubendem Getöse schoben sich erst eine dreckige Schneewand und dann ein Fahrzeug, das mal orange gewesen sein muss, an ihr vorbei. Carina sprang zur Seite. Sie wollte Königin unter leuchtendem Goldregen sein, nicht ein armes kleines Ding unter einem Schauer aus Schlamm und Schneematsch. Quietschende Bremsen stoppten das Gefährt einige Meter weiter. Kalle kurbelte sein Fenster herunter.

Als Carina den Stillstand des Fahrzeugs erkannte, rannte sie los. Die Kälte schien ihre Knochen und Gelenke eingefroren zu haben, jeder Schritt schmerzte. Als Kalle sie wahrnahm, hatte sie schon die Beifahrertüre aufgerissen und sich neben ihm platziert, Sie zitterte. Im Inneren war es einigermaßen angenehm, mehrere Düsen bliesen ihr warme Luft entgegen. Kalles Worte, die an sie gerichtet waren, hörte Carina zunächst nicht.

Am Innenspiegel des alten Unimog hing noch ein trostloser Weihnachtsstern, das klischeebeladene Schild hinter der Windschutzscheibe blinkte Kalles Namen in die leere Nacht. Rudimentär lag ein Hauch von Biergeruch in der Kabinenluft. Kalle strich sich ratlos durch seinen ergrauten Vollbart, während Carina begann, die Umgebung wahrzunehmen.

Es dauerte noch eine Weile, bis Carina klarmachen konnte, warum sie hier saß, was und wohin sie wollte. Mit jedem Wort, das sie sprach, wurde Kalles Blick skeptischer, doch er beschloss, ihr zu helfen. Ohne einen weiteren Kommentar setzte er den Wagen wieder in Bewegung und übertünchte den Biergeruch, indem er sich eine Zigarette anzündete. Das Funkgerät rauschte monoton, unterbrochen nur von gelegentlichem asynchronen Knacken.

Carina konnte nicht sagen, wie lange sie fuhren. Rhythmisch schoben die Scheibenwischer des Unimog den Schnee weg und versetzten sie in eine Art Trance. Kalle schaltete das Radio ein. Ein DJ schien nicht begriffen zu haben, dass Weihnachten längst vorbei war, ungeniert spielte er Wham!. Kurz darauf erreichten sie den Hof. Kalle ließ den Motor ersterben und bedeutete Carina, auszusteigen. Noch immer leicht hypnotisiert leistete sie seiner Anweisung Folge und sah sich um. Mehrere Fahrzeuge, die jenem, mit dem sie angekommen waren, glichen, standen in militärischer Formation neben ihr. Er brachte sie in einen kleinen beleuchteten Baucontainer. Im Innern saßen mehrere Männer, die sie anstarrten.

In kurzen Worten widerholte Kalle vor den anderen Carinas Geschichte, so wie er glaubte, sie verstanden zu haben. Auf die Frage nach der nächsten Tour in Richtung Stadt meldete sich ein junger Fahrer in rustikalem Hemd. Sein Gesicht mochte so gar nicht zu Kleidung und schon gar nicht Beruf passen, viel zu fein schien es gezeichnet. Carina fand ihn auf vertraute Weise schön. Sie wärmte sich am Ofen in der Ecke.

Julian öffnete ihr die Tür seines Fahrzeugs. Das Innere schien ihr vertraut, doch fehlte die Schwere von Bier und Tabak. Sie ließ sich auf den Sitz gleiten und beobachtete, wie Julian neben ihr Platz nahm. Der Motor erwachte zum Leben, etwas zu ruckelig ließ er die Kupplung kommen. Vor der Fahrzeugfront senkte sich die schwere Schaufel und erneut setzte eine Fontäne ein. Carina beobachtete Julian, wie er den schweren Pflug geschickt entlang des Straßenrands manövrierte. Er pfiff dazu leise. Es war ein altes Lied, sie kannte es, konnte sich aber weder an Interpret noch Titel erinnern. Es klang, wie aus einem früheren Leben. Es trug sie zurück in die Kinderzeit, in der sie die Abgeschiedenheit als Segen und nicht als Fluch empfand. Später wanderten fast alle jungen Leute ab, zogen weg, suchten ihr Glück in der Welt, in die Carina nun auch fliehen wollte - zumindest zeitweise.

Sie musste an ihre Eltern denken. Ob sie ihr Verschwinden inzwischen bemerkt hatten? Ob sie nach ihr suchten? Ob sie den Zettel gefunden hatten, den sie hinterließ? Auf den sie schrieb, dass sie am ersten Tag des neuen Jahres wieder zurückkehren werde.
Julian hatte die Heizdüsen auf Carinas Füße gerichtet. Wenn die Füße kalt sind, friert der ganze Körper. Das hatte Julian zuvor gesagt. Sie musste lachen. Die Mutter ihrer Sandkastenliebe predigte das allen Kindern auf dem Spielplatz regelmäßig. Worte und Erinnerungen, die so weit weg schienen. Wie das Lied, das Julian immer noch pfiff.

Noch immer konnte sie die Lichter der Stadt nicht ausmachen. Gerade, als sie sich fragte, wie weit es wohl noch sein würde, verstummte Julians Pfeifen. Kurz darauf der Motor. Aus Reflex riss er das Steuer etwas zu weit herum, der Laster rollte jenseits des Seitenstreifens im Schnee aus. Ohne Carina einen Blick oder eine Erklärung zu schenken, griff er zum Funkgerät und meldete ein steckengebliebenes Fahrzeug. Sie warteten eine Weile und unterhielten sich über zwanglose Dinge.

Carina fröstelte. Ohne Motor lief auch die Heizung nicht und der Frost zog fies durch die Türen und Fenster hinein. Als Julian dies bemerkte, griff er nach einer Thermoskanne und schenkte ihr einen heißen Tee ein. Das heiße Gebräu wärmte von innen und bescherte ihr ein kurzes Gefühl des wohligen Schüttelns. Der Geschmack des Tees jedoch kam ihr vor, wie ein weiteres Fragment des Erinnerns. In einem kurzen Moment unbedarfter Spontanität lehnte sie sich an ihn um die Kälte zu vergessen. Plötzlich fühlte sich wieder alles so vertraut an und mit einem Schlag konnte sie alle bis dato längst vergessenen Erinnerungen wieder zuordnen. Sie sah ihn an und erzählte.

Die Lichter, die sich näherten, gehörten zu Kalles Unimog. Er hielt neben den beiden an, doch Julian winkte ihn weiter. Carina lag in seinen Armen. Ihren Plan hatte sie längst verworfen. Das hier war besser. In der Ferne sahen sie das große Feuerwerk der Stadt. Goldregen.

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