Donnerstag, 24. Juni 2010

Ende

Von Konrad.

Chamakh betrachtete seine Fingernägel. Sie wirkten ungepflegt und täglich abgekaut. Das Licht des Raumes warf den Schatten seines Körpers auf den Tisch und zusammen hörten sie dem Pochen ihres Herzens zu. Es roch nach Frittierfett. Abgestandenem Frittierfett. Vor allem aber, stand der Rauch von Tausend Zigaretten in der Luft. Deren Reste türmten sich über die Ränder der Aschenbecher und belegten die darunter liegenden Holzplatten. Bei der kleinsten Bewegung ächzten die Stühle und beklagten sich über ihre Last. Die Kulisse glich der, an den vorangehenden Tagen. Der Mann an der Bar hustete vor sich hin, während er den Tresen sauber machte. Mit einer Armbewegung wischte er die klebrigen Reste verschiedenster Getränke und seinen eigenen Speichel weg.
„Wir schließen gleich!“, sagte er eher beiläufig.
Chamakh stütze sich am Tisch ab als er aufstand, um zu gehen. Sein Gesicht verzog er dabei.
„Soll ich dir ein Taxi rufen, Chamakh?“
„Nein geht schon, danke. Gott segne dich mein Freund. Bis morgen.“ „Ja bis morgen...“ Er lächelte schwach als er hinaus auf die Straße trat. Es war eine kalte Frühlingsnacht und der klare Nachthimmel verkündete einen schönen morgigen Tag. Chamakh richtete seinen Kragen auf und steckte seine Hände tief in die Taschen der Jeans. Sie war löchrig und ihr Bund war weit, weshalb er die Hose jedes mal nach fünf Schritten hochziehen musste. Die Straße war leer um diese Uhrzeit und in den Fenstern der Häuser brannte kein Licht mehr. Die ganze Stadt schlief während Chamakh seinen Weg ging. Ein Taxi näherte sich ihm, von hinten. Als beide auf der selben Höhe waren, kurbelte der Fahrer das Fenster hinunter.
„Wollen sie mitgenommen werden?“
„Tut mir Leid, ich muss passen. Ich könnte Sie nicht bezahlen.“ „Heute ist ihr Glückstag. Steigen sie ein, ich spendiere ihnen die Fahrt.“ Der Taxifahrer öffnete ihm die Beifahrertür von seinem Platz aus und machte das Licht im Auto an. Während Chamakh einstieg verzog er abermals sein Gesicht.
„Ich danke Ihnen, guter Mann.“
„Wir Ausländer müssen doch zusammen halten. Wo soll es hingehen?“ „Ach, fahren Sie einfach gerade aus. Alles andere ergibt sich dann.“ Der Taxifahrer nickte zustimmend und startete den Wagen.
„Wo kommen Sie denn her, wenn ich fragen darf?
Chamakh hustete stark, bevor er antwortete. Dabei drückte er sich mit der rechten Hand auf seinen Brustkorb.
„Marokko. Bin vor 21 Jahren hierher gekommen.“ „Verstehe, ich komme aus Algerien.“ Der Fahrer klappte die Sonnenblende herunter.
„Schauen Sie, bitte. Das ist meine Familie. Meine Frau und ich sind vor 13 Jahren hergekommen. Haben Sie auch Familie hier?“ „Nein, nein, mein Freund. Ich bin alleine. Das schon eine lange, lange Zeit.“ Während die Sonnenblende wieder hochgeklappt wurde sah Chamakh aus dem Fenster und beobachtete die Ampel, wie sie auf Rot sprang. Sofort wurde das Auto langsamer und blieb schließlich stehen.
„Das ist sehr traurig. Sehr traurig. Ich wüsste nicht was ich ohne meine Familie machen würde. Wissen Sie, wenn ich morgens aufstehe und meine Frau neben mir liegen sehe, weiß ich, warum ich das alles mache. Verstehen Sie?“ „Ich verstehe sie sehr gut mein Freund. Es ist nicht leicht in einem neuen Land Fuss zu fassen. Das war bei mir nicht anders. Familie gibt einem Kraft und Rückhalt. Sie sind ein schlauer Mann wenn Sie wissen, was Sie an ihr haben.“ „Danke. Vielen Dank.“ Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung. Aus dem Autoradio drang leise Musik. Man hörte sie kaum, wenn man sich nicht darauf konzentrierte. Chamakhs Husten übertönte diese mühelos.
„Der Husten hört sich nicht gut an. Sie sollten zum Arzt gehen.“ „Guter Mann, es gibt Dinge, die niemand aufhalten kann. Auch kein Arzt. Meine Zeit neigt sich dem Ende entgegen und ich werde bald meine Ruhe finden, so Gott will.“ Der Fahrer nickte und wechselte den Gang.
„Sie sagen mir schon, wann ich abbiegen muss, ja?“ Chamakh lächelte und legte den Arm auf die Schulter des Taxifahrers.
„Machen Sie sich keine Sorgen. Machen Sie sich keine Sorgen...“

Samstag, 19. Juni 2010

Im Käfig

Von Abby.

„Möchtest Du etwas trinken?“
Erstaunt schaue ich auf. Vor mir steht ein blonder Junge, der mich fragend ansieht.
Ich schüttle den Kopf und versuche ein freundliches Lächeln. Es misslingt.
Er geht zurück zu der Gruppe Jugendlicher, die ihn erwartungsvoll beobachtet hatten.
„Warum hast Du nicht angenommen?“, fragt Bianca. Ich wende mich wieder ihr zu.
„Weil ich nichts wollte“, knurre ich als Antwort und hoffe, dass sie sich damit zufrieden gibt.
„Aber er ist doch voll süß!“ - „Na und?“
Sie macht eine entsetzte Miene, was mich zu einem Lächeln bringt. Sie ist der einzige Mensch, der das schafft. „So wirst Du nie einen Freund kriegen“, meint sie schließlich und zieht eine Schnute.
Ich sehe mich im Raum um. Jugendliche in unserem Alter stehen und sitzen rum, unterhalten sich und trinken. Ich habe nicht das Bedürfnis, einen von denen näher kennen zu lernen. Menschen nerven mich. Abgesehen von Bianca gibt es keinen, den ich wirklich mag. Sie und ich haben uns in der 2. Klasse kennen gelernt und sind seitdem Freundinnen. Auch wenn uns vieles trennt, Interessen, Aussehen, Weltanschauung, sind wir die besten Freunde.
Jemand tritt hinter sie und legt seine Hände auf ihre Augen. Mit verstellter Stimme fragt er: „Na, wer bin ich?“ Sie lacht und antwortet: „Bestimmt der Weihnachtsmann!“ Während sie sich umdreht und ihren Freund liebevoll begrüßt, hallt seine Frage in mir nach: Wer bin ich?

Wer ich bin? Außenstehende würden mich als eine zurückgezogene, ruhige und etwas eigenartige 16-Jährige bezeichnen. Ich melde mich nie im Unterricht und rede so wenig, dass manche wahrscheinlich denken, ich sei stumm. Es gibt viele, die gar nicht wissen, wie meine Stimme klingt. Die einzige Freundin, die ich habe, ist Bianca. Sie ist die Einzige, der ich vertraue. Ich bin klein, habe schwarzes Haar und dunkle Augen. Meine blasse Haut bildet einen starken Kontrast dazu. Ich bin unsichtbar für die Menschheit. Doch bin ich das wirklich? Zurückgezogen?

Oder eher zurückgedrängt? Von einer lauten, durch Lügen zerstörten Welt.

Bianca tippt mich an.
Entschuldigend lächelnd meint sie: „Ich muss jetzt gehen. Es ist spät.“ Ich nicke. Ihr Freund schaltet sich ein: „Soll ich Dich mitnehmen und irgendwo absetzen?“ Ich schüttle den Kopf. Die beiden verabschieden sich. Bianca umarmt mich kurz und murmelt „Bis Montag.“ Dann gehen sie.

Ich schaue mich um.

Während ich überlege, ob ich auch gehen soll, fällt mein Blick auf Stefan, der auf einer Couch im hinteren Teil des Raumes sitzt. Seine Augen sind geschlossen, er hört Musik über Kopfhörer. Abgetrennt von der Außenwelt.
Ich kenne ihn, wie die meisten anderen hier auch, aus der Schule. Er ist eine Klasse über mir. Wenn es einen Menschen gäbe, den ich als Seelenverwandten bezeichnen würde, wäre er es. Er ist ein totaler Einzelgänger. Er trägt nur schwarz, was ihm etwas Düsteres verleiht. Seine Haare sind genauso dunkel wie seine Augen.

Er lacht nie.

Als Bianca mich auf dem Schulhof einmal fragte, wen ich süß fände, zeigte ich auf ihn und sagte: „Verkupple mich mit ihm; er ist der Einzige, der mich ertragen könnte!“ Sie hatte gelacht und nicht gemerkt, dass ich es ernst meinte.
Langsam gehe ich auf ihn zu. Niemand im Raum beachtet mich, alle sind schon zu sehr betrunken, vom Alkohol und der Stimmung.
Vor Stefan angekommen bleibe ich stehen. Ich kann seine langen Wimpern sehen, den leicht geöffneten Mund, den Wirbel seiner Haare am Ansatz über der Stirn. Sein Brustkorb bewegt sich gleichmäßig, der linke Fuß wippt im Takt der Musik, die nur er hören kann.
Als ob er meine Blicke auf sich spüren würde, öffnet er die Augen und sieht mich unüberrascht an. Sein Fuß hört auf zu wippen, als er mir mit der Hand bedeutet, mich neben ihn zu setzen.
Ich kaue auf meiner Unterlippe, überwinde mich schließlich und setze mich neben ihn. Mein ganzer Körper ist angespannt, ich spüre jede Faser: Unsere Knie, die sich berühren, unsere Schultern, unsere Arme…
Ich frage mich selbst, was ich hier eigentlich mache. Unternehme ich hier wirklich den verzweifelten Versuch, ihn anzubaggern? Ich muss verrückt geworden sein!
Ich will wieder aufstehen, weggehen, mir eine Blamage ersparen.
Doch in genau dem Moment, als ich mich erheben will, legt er plötzlich seine Hand auf meine.

Ich erstarre.

Halte den Atem an und suche seinen Blick. Ernst sieht er mich an. Ich beiße mir wieder fest auf die Lippe, schmecke Blut.

Keiner von uns sagt ein Wort.

Ohne Vorwarnung zieht er mich plötzlich an sich heran. Unsere Gesichter sind nicht weit voneinander entfernt.
Ich atme seinen Geruch ein, eine Mischung aus Deo, Labello und Vanille. Von nahem kann ich die ockerfarbenen Schlieren in seinen dunklen Augen sehen.
„Was willst Du?“ Es ist mehr ein Flüstern, eine gewisperte Frage, die sich in mir festsetzt. Was will ich?
Ich schlucke und schaue auf seine Lippen. Stelle mir vor, wie diese sich wohl auf meienn anfühlen würden. Ich werde rot, als ich mich bei diesem Gedanken ertappe. Er bemerkt es. Sein Mund verzieht sich zu einem süffisanten Lächeln.
Er zieht mich noch ein Stück näher an sich heran.
Unsere Lippen trennen nur noch wenige Luftmoleküle, als er, jede Silbe betonend, flüstert: „Dann hol’ es Dir!“
Mit diesen Worten überbrückt er den letzten Abstand zwischen uns und küsst mich sanft auf die Lippen.
Ich sehe seine geschlossenen Augen, fühle seine weichen Lippen, die sich auf meine drücken und habe das Gefühl zu fallen.
Mit den Händen taste ich nach seinen Schultern und kralle mich an ihnen fest.
Ist das richtig? Ist es okay, ihn zu küssen?
Es ist für mich wie eine Befreiung aus einem Käfig, in dem ich schon zu lange eingesperrt war. Zu lange habe ich nichts empfunden, habe keine Gefühle zugelassen. Von ihm fühle ich mich verstanden. Das erste Mal im Leben.
Ob er mich wohl liebt? Ob er bei meinem Anblick auch ein Verlangen spürt, das er bisher nicht deuten konnte? Oder ist es für ihn ein Spiel? Ein Kuss, und danach nichts mehr?

Küssen und wieder vergessen?

Ich weiß es nicht. Doch ich weiß eins: Daran würde ich zerbrechen.
Dafür liebe und begehre ich ihn zu sehr. Doch ich will jetzt nicht an später denken. Nur an die Gegenwart, das Hier und Jetzt.

Ich schließe die Augen und erwidere seinen Kuss.

Ende einer Liebe

Von Flecky.

Wenn man denn immer so könnte, wie man wollen würde. Jana sah ihn an und wusste, dass es für sie beide keine Zukunft mehr gab. Jahrelang waren sie zusammen gewesen. Für sie war es Liebe auf den ersten Blick. So vieles hatten sie zusammen erlebt. Und sie konnte sich immer auf ihn verlassen. Dass sie sich nun so jäh trennten, brach ihr das Herz. Und er stand stumm neben ihr, kalt und leer. Und obwohl sie wusste, dass er sie nicht verstehen würde, flüsterte sie leise Sätze zum Abschied. Worte, die sie zum Weinen brachten, er aber stand weiterhin regungslos da und sah sie an mit seinen großen Augen - immer noch stumm. Als würden ihre Worte an ihm abperlen. Dass es höhere Mächte gab, die gegen ihre Liebe spielten, konnte er nicht wissen. Jana aber ahnte es, lange Zeit schon, auch wenn sie es nie zugeben wollte. Sie trat einen Schritt auf ihn zu, fast so, wie wenn sie ihm einen letzten Abschiedskuss geben wollte, streichelte ihn aber dann nur zärtlich.
"Ich werde dich vermissen", sagte sie schließlich zu ihm. "Du bleibst in meinem Herzen.". Dann wischte sie sich eine Träne aus den Augen und wollte gehen um den Abschied nicht noch schmerzhafter zu machen. Sie drehte sich um und verließ mit schnellen Schritten den Hof. Hinter ihm türmten sich Schrotthaufen - das nüchterne Todesurteil ihrer Beziehung flatterte an seinem Scheibenwischer: Nicht mehr verkehrssicher.