Freitag, 12. November 2010

Ringkøbing

Von Lydia.

Ich wusste nichts über ihn. Nichts. Ich könnte Ihnen seinen Namen verraten. Das genaue Alter. Den Geburtstort. Ich hätte mich hinaus schleichen, seine Schuhe umdrehen können um nach zu sehen, welche Schuhgrößer er trägt.
Was würde Ihnen das nützen? Nichts. Zahlen wären das dann, nichtssagende Zahlen und Buchstaben, die Worte formten.
Ich habe ihn mit dem Zug besucht. Nachmittags bin ich den Zug gestiegen, Schweiß gebadet in G. los gefahren. Kurz vor Mitternacht kam ich in der Stadt an, in der er wohnte. Eine Stadt in Dänemark, eine Stadt in der er vielleicht noch immer wohnt. Ringkøbing.
Wortlos nahm er mein Gepäck ab, welches gar nicht schwer war.
Wir fuhren Rolltreppen hinauf. Ich stand eine Stufe über ihm, drehte mich zu ihm herum. Wir grinsten einander wortlos an, bis ich die Augen schloss, den Kopf in den Nacken legte und nach oben sah, genau so, als stünde ich am Meer, röche die salzige Luft. So als wirbelte der Wind bereits in meinem Haar.

Ein paar Tage haben wir beieinander gelegen und übereinander lagen wir auch. Wir stapelten uns, klebten wie Feuerkäfer aneinander. Verknoteten unsere Arme und Beine miteinander. Wir redeten bis wir still wurden.

Es war so still.

Für einen Moment hätte man jedes noch so kleine Geräusch vernehmen können. Das Geräusch, welches Papier machen würde, wenn man es in der Hand zerdrückt, um es in den Papierkorb zu werfen. Es war so still, dass man selbst den Aufprall des zerknüllten Papieres noch hätte vernehmen können. Zwischen uns und der Stille entstanden Hurrikane.
Stille Hurrikane.
Sie kamen so schnell über uns, dass es mir unmöglich war zu begreifen, wie sie entstanden.

Kraftlos.

Nach jedem Mal. Immer, wenn all das vorbei war, waren wir müde und kraftlos. Wir mussten aufstehen, um zu schlafen. Wir nahmen den Bus.

Bus fahren um zum Meer zu gelangen.

Er setzte sich an den Strand, zog die Schuhe aus und malte Bilder mit den Füßen. Bilder die mir der kalte Wind als Sandkörner ins Gesicht schmiss. Manchmal peitschten sie wie Nadelstiche auf meiner Haut.

Ich sang seinen Namen vor mich hin, ein Name, der ihnen alles über ihn verraten würde.

Ich wickelte mir singend ein Handtuch um die Hüften und lief dem Meer entgegen. Aus der Ferne konnte ich sein klingelndes Telefon hören. Dort, wo das Wasser begann meine Füße zu umspülen, ließ ich das Handtuch fallen. Rannte, tauchte ein und tauchte unter. Bilder tauchten vor meinem geistigen Auge auf. Ich als Kind, Hulla Hoop spielend im Garten meiner Eltern. Die schreienden Stimmen meiner Eltern, die aus dem Haus drangen. Ich sah meine Eltern vor mir, wie sie sich anschrien. Sie schrien, weil sie sich liebten, weil sie sich noch immer so sehr lieben.
Ich schwamm zurück an den Strand, wickelte mir mein Handtuch wieder um die Hüften und ging zurück zu ihm. Er malte noch immer Bilder in den Sand, telefonierte noch immer mit seiner Familie in einer Sprache, die ich nicht verstand, nie verstehen würde.

Ich setzte mich neben ihn, es waren keine anderen Menschen in der Nähe und nur deshalb legte er den Arm um mich. Mein Kopf sank an seine Schulter, in seinen Nacken. Ich schlief ein, als ich seinen Worten lauschte. Worte, die zusammen mit dem Rauschen des Meeres wie eine fremde besänftigende Melodie klangen.

Als ich aufwachte saß ich wieder im Zug nach G., halb erfroren, das grelle Innenlicht spiegelte sich in den Fensterscheiben. Ich konnte nichts mehr sehen.

1 Kommentar:

  1. "Ein paar Tage haben wir beieinander gelegen und übereinander lagen wir auch. Wir stapelten uns, klebten wie Feuerkäfer aneinander. Verknoteten unsere Arme und Beine miteinander. Wir redeten bis wir still wurden."

    Schöne Textstelle! :-)

    Liebe Grüße, Schmerzwach
    http://schmerzwach.blogspot.com/

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